Interview:Die Zeiten haben sich geändert

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Beitragsbild Interview Oliver P. Kuhrt

Interview

Portrait Oliver P. Kuhrt

Oliver P. Kuhrt

Geschäftsführer der Messe Essen

Seit 112 Jahren ist die Messe Essen Ausrichter vieler nationaler und internationaler Leitmessen und gehört zu den Top Ten der Messestandorte in Deutschland. Messechef Oliver P. Kuhrt, persönliches Mitglied im Initiativkreis Ruhr, im Interview über Nachhaltigkeit, kurze Wege im Ruhrgebiet und eine spürbare Zeitenwende in den Messehallen.

Herr Kuhrt, kommen wir zu Beginn direkt zu einem beeindruckenden Projekt: Auf einem der Messeparkplätze werden nun auf insgesamt 50.000 qm Solar-Carports gebaut.

Richtig. Das ist ein Parkplatz, der vor allem für Großveranstaltungen genutzt wird und direkt an der Autobahn A52 liegt. Wir als Messe haben zwar nur ein Nutzungsrecht an der städtischen Fläche, sind aber sehr froh, auch in den Planungsprozess eingebunden zu sein. Federführend ist die Essener Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (EVV). Sie hat das Solar-Startup Envira mit der Umsetzung beauftragt. Gemeinsam mit dem Partner ROOF + aus Bochum ständert Envira auf dem P10 25.000 Solarmodule auf, mit einer Leistung von 11.000 Kilowattstunden in der Spitze. Somit erhält die Stadt mit unserer Unterstützung ab nächstem Jahr 11,2 Mio. Kilowattstunden sauberen Strom. Das spart 5,2 Mio. Tonnen CO₂ pro Jahr! Und parken können die Autos natürlich immer noch, im Sommer sogar angenehm schattig.

Warum sind Klima & Nachhaltigkeit wichtige Themen für die Messe Essen?

Messen sind energieintensiv – wir sind uns daher unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung als Unternehmen sehr bewusst und übernehmen diese auch gerne. Zudem stellen unsere Aussteller, Gastveranstalter und Besucher heute andere Anforderungen an uns als früher. Nachhaltigkeitsziele spielen eine viel größere Rolle als noch vor zehn, 15 Jahren. Noch dazu es ist eine Kostenfrage: Wenn wir beispielsweise den energetischen Ansatz vernachlässigen würden, käme die CO₂-Bepreisung viel stärker zum Tragen.

Was brauchen Messen heute, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Die Messe Essen ist mit Ihren 112 Jahren immer noch gut im Geschäft.

Ein erfolgreicher Messestandort braucht drei Dinge. Erstens: ein modernes Gelände als Grundvoraussetzung. Dazu zählt eine einladende Architektur genauso wie eine Gebäudeinfrastruktur, die technisch auf neuestem Stand ist. Flexibel miteinander kombinierbare oder abtrennbare Hallen und Räumlichkeiten sind ebenfalls von Vorteil. Je flexibler und somit passgenauer sich das Messegelände an die Anforderungen einer jeweiligen Veranstaltung anpassen kann, desto besser. Das ist bei uns in Essen gegeben – insbesondere für mittelgroße „Special Interest“ Veranstaltungen. Zweitens: Die richtige Lage. Als Messestandort im Herzen des Ruhrgebiets profitiert die Messe Essen nicht nur vom Besucherpotenzial des Ballungsraums, sondern auch von der sehr guten Verkehrsanbindung an die Autobahn, den Flughafen und den Hauptbahnhof. Die stadtnahe Lage sowie die direkte Nachbarschaft zum Szeneviertel Rüttenscheid und zum Grugapark, das sind echte Marktvorteile. Und als Drittes: höchste Service-Ansprüche. Die Messe Essen ist wiederholt für ihre Servicequalität ausgezeichnet worden und hat sich damit deutlich von anderen Messegesellschaften abgegrenzt. Dabei kommt uns zugute, dass wir mit einem verhältnismäßig kleinen, agilen Team und einem mittelgroßen Messegelände sehr nah an unseren Kunden sind – der persönliche Austausch kommt gut an.

Apropos Standort: Was schätzen Sie als gebürtiger Wiesbadener denn am Ruhrgebiet besonders?

Sehr viel. Ich bin, wie Sie gesagt haben, gebürtiger Wiesbadener und habe lange in Köln gelebt - daher hatte ich lange kaum Berührungspunkte mit dem Ruhrgebiet. Aber mir sagt der Menschenschlag hier sehr zu. Die aufgeräumte und direkte Art. Das hilft auch, Zeit zu sparen, weil nicht lange um den heißen Brei herumgeredet wird. Das gefällt mir.

Das Thema Digitalisierung spielt auch für Ihr Unternehmen eine große Rolle. Wie sieht Ihre Digitalstrategie aus?

Bei uns findet Digitalisierung gleich in drei Feldern statt: betriebsintern, also unsere internen Arbeitsprozesse betreffend, dann hinsichtlich der Schnittstellen mit unseren Ausstellern und Besuchern sowie in Bezug auf Messen als digitale Plattformen. Letzteres wurde während der Corona-Pandemie relevant. Wir mussten uns fragen, wird es nach Corona überhaupt noch physische Messen geben? Ich bin da relativ entspannt geblieben, denn bisher war es immer so, dass nach Krisenzeiten der Wunsch nach physischen Zusammenkünften wieder groß war, es gab immer einen Nachholbedarf. Das war nach Corona glücklicherweise auch so. Von den digitalen Messeplattformen ist daher fast nichts übriggeblieben – mit Ausnahme hybrider Standkonzepte oder dem Livestream des Rahmenprogramms. Betriebsintern und in Hinblick auf unsere digitalen Services für Kunden schreitet unsere digitale Transformation hingegen mit großem Tempo fort. So haben wir im letzten Jahr beispielsweise eine umfassenden Softwareanwendung für die Messe- und Kongressbranche ausgerollt. Von der Ausstellerakquise über die Standanmeldung und Platzierung bis hin zu Servicebestellungen und Fakturierung sind alle Vorgänge in einem Tool gebündelt. Das birgt erhebliches Potenzial zur Effizienzsteigerung – sowohl auf Seiten der Aussteller als auch bei uns. Gleichzeitig greifen wir auf das Potenzial von KI zur Zielgruppenansprache und Besucherakquise zurück und entwickeln zurzeit beispielsweise einen messeeigenen Chatbot. Da verwundert es nicht, dass der analoge Messekatalog langsam ausstirbt.

Kommen wir noch einmal zurück zum Thema Nachhaltigkeit. Bis 2030 möchten Sie CO2-neutral sein.

Ja, auch da kommt KI zum Einsatz. Vor allem, was Kälte und Wärme im Dekarbonisierungsprozess betrifft. Dazu rufen wir voraussichtlich in diesem Jahr einen internationalen Ideen-Wettbewerb aus und schauen, mit welchen Ressourcen es uns gelingt, das umzusetzen.

Ich bin, wie Sie gesagt haben, gebürtiger Wiesbadener und habe lange in Köln gelebt - daher hatte ich lange kaum Berührungspunkte mit dem Ruhrgebiet. Aber mir sagt der Menschenschlag hier sehr zu. Die aufgeräumte und direkte Art.

Oliver P. Kuhrt – Geschäftsführer der Messe Essen

Gibt es denn viele Messen zu den Themen Klima und Nachhaltigkeit? Das Thema ist aktuell ein wenig aus dem Fokus verschwunden, scheint es.

Das Thema Nachhaltigkeit trifft jede Branche. Inzwischen beschäftigen sich nicht nur Fachmessen mit originärem Bezug zu Grün mit dem Thema – wie beispielsweise die IPM ESSEN als Weltleitmesse des Gartenbaus – sondern auch Messen wie die Essen Motor Show, auf der alternative Antriebe heute ganz selbstverständlich ihren Platz in der Ausstellung haben. Zudem haben wir mit der E-world energy & water eine stark wachsende internationale Fachmesse mit zuletzt 980 Ausstellern aus über 30 Nationen im Portfolio. Die Messe schließt Jahr für Jahr mit neuen Bestmarken ab und hat sich als europäische Leitmesse der Energiewirtschaft etabliert. Die Themen erneuerbare Energien und Nachhaltigkeit sind daher nach wie vor groß und gar nicht mehr wegzudenken.

Geopolitisch verändert sich die Welt derzeit rasant, wir in Europa erleben das dritte Jahr in Folge eine Rezession. Inwiefern bekommen Sie das als Messe-Standort mit und wie reagieren Sie darauf?

Über nahezu alle Branchen und Industriezweige hinweg besteht derzeit eine große Unsicherheit und Zurückhaltung, was Investitionen angeht – so auch im Marketing, und Messen sind Marketingmaßnahmen. Das gilt nicht nur für den deutschen, sondern auch für den europäischen Markt. Mit Ausnahme des Themas Energie, wie das Beispiel der wachsenden E-world belegt. Die Branche entwickelt sich hier in Europa antizyklisch, während sie in den USA deutlich verhaltener reagiert, gerade in Bezug auf erneuerbare Energien. Aber abseits der Energie gilt in Europa: Die wenigsten Unternehmen handeln nun einmal antizyklisch zur gesamtwirtschaftlichen Lage – leider. Das spüren wir auch als Messestandort.

Wie sieht es denn mit dem thematischen Spektrum der Messen in Essen aus, kristallisieren sich Schwerpunkte heraus?

Ein Blick in unseren Veranstaltungskalender zeigt, dass es kaum ein Thema gibt, das nicht in der Messe Essen mit einer Veranstaltung vertreten ist. Aber es lässt sich sicher sagen, dass die beiden stärksten Wirtschaftszweige des Standorts Essen auch in unserem Portfolio stark vertreten sind: Energie und Medizin. Gleichzeitig arbeiten wir immer daran, neue Themenfelder zu besetzen. So findet in der Messe Essen im September 2026 mit der EURO DEFENCE EXPO die erste internationale Fachmesse der Verteidigungsindustrie in Deutschland statt. Die EUDEX bringt ein Thema in die Messehallen, das man sich vor zehn Jahren sicher auch noch nicht hätte vorstellen können. Aber so ist das mit Messen: Wir erfinden uns immer wieder neu.